Deutsche Künstler sehen Italien XII

Dr. Rainer Grimm

01.07.2021

Liebe Kunstfreundinnen und –freunde,

im letzten Brief hatte ich schon am Schluss angekündigt, dass es dieses Mal vor allem um zwei Hannoveraner gehen sollte. An sich wollte ich wie immer in den letzten ‚Briefen‘ drei Künstler vorstellen. Nach längerem Lesen und Zögern habe ich mich aber nun für nur zwei Hannoveraner entschieden. Beide sind aus meiner Sicht so wichtig, dass sie etwas mehr Raum brauchen.

Da ist zunächst einmal der bedeutende Jurist, Diplomat, Archäologe, Zeichner, Musiker, Kunstkenner und Freund der Künstler August Kestner. Schon an der Aufzählung seiner vielen Tätigkeiten und Talente sieht man, was für ein außergewöhnlicher und vielseitiger Mann er war. In Hannover ist er in gewisser Hinsicht immer noch präsent, weil das älteste Museum, das ‚Museum August Kestner‘, nach ihm benannt ist. Die Sammlung, die er in Italien zusammengetragen hat, bildet den Grundstock dieses Museums.

Der andere Künstler ist leider nicht mehr so im Gedächtnis, wie er es verdient, es ist der Bildhauer Heinrich Kümmel. Die beiden sind in Hannover geboren, haben aber sobald sie es sich erlauben konnten, ihre Heimat verlassen, sind nach Italien gegangen und schließlich in Rom bis zu ihrem Tod geblieben.

Georg August Christian Kestner (1777 – 1853) stammte aus einer der sogenannten ‚hübschen‘ Familien – damit gehörte er in Hannover zur bürgerlichen Oberschicht. Seine Mutter Charlotte, geborene Buff stammte aus Wetzlar – sie ist das Vorbild für die ‚Lotte‘ aus Goethes Briefroman ‚Die Leiden des jungen Werther‘. Schon an diesen biographischen Details kann man sehen, dass er gute Voraussetzungen für eine solide bürgerliche Karriere hatte.

Er studierte in Göttingen Jura, daneben nahm er aber auch Zeichenunterricht und besuchte Vorlesungen in Kunstgeschichte. Nach dem Examen arbeitete er zunächst in Hannover als ‚Geheimer Kanzleisekretär‘. Aber er kränkelte viel, und das war ein wesentlicher Grund für eine erste Reise nach Italien – man versprach sich durch das Klima eine Verbesserung seiner Gesundheit. Diese erste Reise von 1807 – 1808 dauerte immerhin fast zwei Jahre. Danach lebte und arbeitete er wieder in Hannover. Neben seiner beruflichen Tätigkeit war er schon immer stark an Kunst, schöner Literatur, Musik und Theater interessiert. Er spielte Gitarre und Klavier, komponierte kleine Stücke und sang, außerdem schrieb er Gedichte, so unter anderem ein ‚Heldenepos‘ zu Ehren der Gräfin Julie von Egloffstein. Dafür wurde er von ihr bei einem Fest mit einem Lorbeerkranz zum Dichter gekrönt. Trotz der teilweise schwierigen politischen Situation in Hannover scheint es ihm also doch gut gegangen zu sein.

Aber er setzte alles daran, wieder nach Rom zu kommen, und 1817 gelang ihm das als Legationssekretär des Gesandten Friedrich von Ompteda. Vermutlich wurde er gewählt, weil er sehr gut Italienisch sprach und ein ‚gewinnendes Wesen‘ hatte. Die Aufgabe der Delegation bestand darin, für das nach dem Wiener Kongress neu entstandene Königreich Hannover, das mit Hildesheim und Osnabrück zwei katholische Bezirke dazu bekommen hatte, ein Konkordat auszuhandeln. Das dauerte insgesamt bis 1824. Kestner befürchtete nun, nach Hannover zurückkehren zu müssen, hatte aber das Glück, in Rom bleiben zu können. Er wurde Geschäftsträger und Gesandter beim Heiligen Stuhl – für Hannover und in Personalunion auch für Großbritannien.

Neben seinen diplomatischen Pflichten hatte er offensichtlich immer genügend Zeit, um sich intensiv mit Archäologie und Kunst zu beschäftigen. So verbrachte er, wenn er nicht auf Reisen war, fast sein ganzes Leben in Rom. Und er scheint ein glückliches Leben in der ewigen Stadt geführt zu haben, wie Marie Jorns im Untertitel ihrer Biographie über ihn schreibt. [Marie Jorns: August Kestner und seine Zeit; Das glückliche Leben des Diplomaten, Kunstsammlers und Mäzens in Hannover und Rom; Hannover 1964]

Wie er sich selbst sah, oder wie er gesehen werden wollte, kann man gut an dem Portrait auf der rechten Seite ablesen. Rudolf Wiegmann, ein Landsmann von Kestner, der zeitweilig bei ihm in Rom wohnte, hat ihn 1832 mit der Malermütze gezeichnet. Es ist typisch für Kestner, dass er offensichtlich so dargestellt werden wollte. Nicht seine eigentliche Profession, die Diplomatie, sondern die Kunst stand für ihn im Vordergrund. Und so ließ er sich eben auch als Künstler darstellen. [Die Zeichnungen sind unter CC-BY-NC-SA@ Museum August Kestner]

Bei einem Ausflug aufs Land mit den Künstlerkollegen freute er sich beispielsweise, wenn er, wie auch die anderen von der Bedienung geduzt wurde. Er umgab sich eben gern mit Künstlern, suchte ihre Gesellschaft, nahm an ihren Festen teil, spielte Gitarre, sang – auch selbstkomponierte und getextete Lieder – er zeichnete mit ihnen und wurde von den Künstlern auch als Zeichner anerkannt.

In Albano hatte er 1820 ein junges Mädchen gesehen, Vittoria Caldoni, das ihm ideal schön erschien. Er schrieb später über sie, es sei „ihr Gesicht von einer Regelmäßigkeit, wie man sie nie gesehen, ganz den griechischen Idealen gleich.“ [Marie Jorns a.a.O. S. 181] Die Familie von Reden nahm sie mit nach Rom, und dort konnten von ihr viele Portraits angefertigt werden.

Ebenso wie die anderen Künstler versuchte Kestner dieses ideale Antlitz zu zeichnen. Nach seiner Zählung soll es vierundvierzig Portraits und Büsten von ihr geben, „aber keins war ganz befriedigend und alle waren untereinander unähnlich.“ [Marie Jorns a.a.O. S. 181] Kestner hat nach eigener Angabe acht Jahre lang versucht, sie zu zeichnen. Dann „als eines Tags, da ich ihr Profil der rechten Seite, wo es schärfer als der linken war, zum Gegenstande machte, ihr Kopf sich um ein Haarbreit von mir abwandte und um also ebensoviel weniger als Profil wurde.  In diesem Momente war es, wo mit Hilfe meiner geträumten Ideale aus dem schönen Kopfe mir die ganze Göttlichkeit auszustrahlen schien, welche in dieser seltenen Kreatur vereinigt war. Meine Hand flog, ich weiß nicht wie, und in wenigen Minuten stand ein Profil da, worin es mir zweifelhaft, ob es Hebe, Minerva, Apollino zu nennen sei. Ich sprang auf, und meine zugleich mit mir arbeitenden Freunde (…) riefen mir Beifall zu.“ [Marie Jorns a.a.O. S. 181]

Ja, man muss wirklich sagen, dass es ein ausgesprochen gut gelungenes Portrait ist. Ich habe mehrere Portraits von Vittoria Caldoni gesehen (im Internet sind viele zu finden) – und im Landesmuseum Hannover gibt es auch eine Büste von ihr – aber die Zeichnung von Kestner steht denen der hauptberuflichen Künstler überhaupt nicht nach.

Neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit war er aber auch als Archäologe tätig. Mit seinem Freund, dem Baron Otto von Stackelberg machte er 1827 Ausgrabungen in den etruskischen Gräbern von Corneto (heute Tarquinia). Dort war er mit Stackelberg tagelang unten in den finsteren Gräbern, um bei Fackelschein die Malereien abzuzeichnen. „Wir zeichneten mehr als zweihundert Figuren griechischen und etruskischen Stils und lebten mehr unter als über der Erde.“ [Marie Jorns a.a.O. S. 183] Ich selbst war vor einigen Jahren mit anderen in Tarquinia, dort konnten wir uns einige der Gräber anschauen – doch es ist für mich kaum vorstellbar, wie man dort unten in den Grabkammern nur beim Schein (und Gestank) von Fackeln zeichnen konnte. Noch heute trägt – sicher als Erinnerung an die beiden Ausgräber – eine Grabkammer den Namen ‚Tomba del Barone‘.

1829 gründete Kestner mit einigen anderen das heute noch bestehende Archäologische Institut in Rom – auch das ist bezeichnend für ihn. Alles, was er neben seiner diplomatischen Tätigkeit begann, hat er akribisch weitergeführt. Denn er gab sich nicht mit dem bloßen Augenschein zufrieden, sondern arbeitete sich in verschiedene Gebiete ein und konnte so mit Fachleuten auch auf Augenhöhe diskutieren. Seine Sammelleidenschaft, der Hannover, wie gesagt, das Museum seines Namens verdankt, war breit gefächert – das ging von der Malerei der Renaissance über (damals) zeitgenössische Kunst, römische und etruskische Kleinplastik und Münzen bis zu ägyptischen Objekten.

Dass er sich das erlauben konnte, das hatte er seiner ‚eigentlichen‘ Tätigkeit als Diplomat zu verdanken. „Insgesamt verfügte August Kestner vor seiner Pensionierung, mit der es zu finanziellen Engpässen kam, über ein Jahreseinkommen von etwa 6750 Talern.“ [Anna Viola Siebert: August Kestner als Kunstkenner und Sammler in Rom; in H. Putz, A. Fronhöfer: Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom (1750 – 1850) Berlin/Boston 2019, S. 232] In der Relation zur Kaufkraft und zu dem, was andere verdienten, war das sehr, sehr viel Geld. Aber Kestner gab eben auch sehr viel für die Kunst aus – nicht nur, dass er gern kaufte, was auf dem Markt zu bekommen war, er unterstützte auch viele Künstler. Das geschah teilweise direkt, indem er ihnen etwas abkaufte. Wichtiger war aber sicher für sie, dass er einige Rombesucher von den Qualitäten der ortsansässigen Künstler überzeugte. Da er ein sehr guter Kenner der Kunst vor Ort war, leitete er Fremde gern durch die Stadt und zeigte ihnen die Sehenswürdigkeiten. In diese Führungen konnte er Besuche bei befreundeten Künstlern einfügen – und so gelang es ihm mehrfach, einem der Rombesucher das ein oder andere Kunstobjekt schmackhaft zu machen.

Der zweite Hannoveraner, auf den ich eingehen möchte, ist der Bildhauer Heinrich Kümmel (1810 – 1855). Zunächst besuchte er das Lyzeum in Hannover, aber schon mit 15 Jahren ging er bei dem Bildhauer Alois Hengst in die Lehre. Da ihm die Ausbildung dort nicht ausreichte, zog  er mit nur 16 Jahren nach Berlin, um dort zu studieren.

Ich gehe auf Kümmel etwas genauer ein, weil sich an ihm dreierlei zeigen lässt. Erstens wie Bildhauer in Rom arbeiten konnten. Außerdem ist sein Nachlass hier im Landesmuseum Hannover deponiert und ich hatte die Gelegenheit, mir Arbeiten anzuschauen, die man meist nicht zu sehen bekommt. Und drittens kann man an ihm gut zeigen, wie Kestner Künstlern geholfen hat.

In Hannover konnte Kümmel 1832 – also mit nur 22 Jahren – ein Relief des Barmherzigen Samariters für das damalige Lindener Krankenhaus schaffen. Das Krankenhaus gibt es nun nicht mehr, und so ist das Relief heute an einer anderen Stelle angebracht, allerdings ist es in einem nicht so guten Zustand. Die Skizze dazu stammte von Bertel Thorvaldsen, und als dieser später einmal durch Hannover kam, soll er gesagt haben, so gut hätte er’s nicht hingekriegt.

Das Relief habe ich hier eingefügt, weil man daran erkennen kann, was für ein herausragender Bildhauer Kümmel schon als junger Mann war. Auf drei Platten wird das Geschehen illustriert. Ganz links geht der Levit, der sich nicht um den Verwundeten gekümmert hat, eilends weg. Auf der mittleren Platte versorgt der Barmherzige Samariter den armen Mann. Ganz rechts steht der Maulesel und wartet. Sehr geschickt hat der Bildhauer Figuren und Szenerie wiedergegeben.

Und dann gibt es noch ein Detail, an dem man sehen kann, über welchen Witz der Künstler verfügte. Es gibt ja – zumindest in Norddeutschland – den ‚Kümel‘ als Schnaps, und der junge Mann hat denn auch direkt auf der Flasche seine Arbeit signiert. So etwas ist in der – ja teilweise doch sehr ernst genommenen – Kunst durchaus selten zu finden.

Nach dieser Arbeit ging der junge Künstler nach Rom. Im September 1833 soll er dort angekommen sein – auf welche Weise, das lässt sich nicht mehr feststellen, vermutlich wird er, wie viele andere vor ihm, einen großen Teil der Strecke zu Fuß gegangen sein. In Rom durfte er sicher bald, wie manche andere, in die Werkstatt von Bertel Thorvaldsen eintreten, konnte manches lernen und etwas Geld verdienen, um davon in der Stadt leben zu können.

Für Thorvaldsen war dieses Arrangement ebenfalls eine gute Sache – er war inzwischen so berühmt, dass er bei vielen Arbeiten, wie erwähnt, nur den Entwurf, vielleicht nur die Zeichnung oder einen Bozetto lieferte – die eigentliche Steinbearbeitung übernahmen dann die Mitarbeiter. Da Kümmel in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stand, konnte er aber auch für sich arbeiten, Thorvaldsen hat ihm dann sicher Korrektur gegeben. Außerdem soll er kleine Reisen in die Umgebung gemacht und dabei gezeichnet haben.

Kümmel hatte also zunächst einmal ein einigermaßen gesichertes Einkommen. Aber es konnte ihm nicht genügte, für einen anderen Künstler die grobe Arbeit zu machen – so nett Thorvaldsen nach allgemeiner Beschreibung auch gewesen sein mag. Solch ein junger Mann, der Eigenes schaffen wollte, hatte aber nicht das Geld, sich Marmor zu kaufen, so musste Kümmel sich in diesen ersten Jahren damit begnügen, Entwürfe zu zeichnen und sie in Ton oder Gips auszuführen.

1835 schuf er diese kleine Tonarbeit. Sie trägt den Titel: ‚Die Erziehung des Bacchus‘. Man sieht eine Nymphe, die mit der rechten Hand eine Weintraube ausdrückt. Zwischen ihren Beinen steht der kleine Bacchus, er hat seinen Kopf ganz zurückgelehnt, um vom Saft der Trauben zu naschen. Mit der linken Hand fasst er der Nymphe unter das Kinn – er versucht ganz offensichtlich, sie dazu zu überreden, ihm noch mehr von dem köstlichen Traubensaft abzugeben. Schon diese kleine Tonskizze zeigt, wie gut der noch recht junge Mann das plastische Arbeiten beherrscht hat. Alles Wesentliche wird gezeigt. Als ich mir vor einigen Jahren im Depot des Landesmuseums Hannover Kümmels Vorarbeiten anschauen konnte, entdeckte ich auch diese Tonskizze. Im Landesmuseum steht auch eine lebensgroße Ausführung in Marmor, die aber hat der Künstler erst wesentlich später anfertigen können.

Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, dass Kestner sich um die Künstler und natürlich auch um die aus seiner Heimat kümmerte. Kümmel schätzte er ganz besonders. Und ihn hat er, wie viele andere Künstler auch gezeichnet. Kümmel war zu diesem Zeitpunkt etwa 26 Jahre alt.

Der junge Mann schaut leicht am Betrachter vorbei. Er trägt das in dieser Zeit modische lange Haar und einen sorgfältig geschnittenen und frisierten Bart. Gut gelungen ist auch bei dieser Zeichnung wieder, wie Kestner sensibel die Hell-Dunkel-Werte setzt. Dass die Verbindung zwischen beiden eng war, und wie sehr der Diplomat den jungen Bildhauer schätzte, kann man auch daran sehen, dass er ihm – im Gegenzug – den Auftrag gab, von ihm eine Portraitbüste anzufertigen.

Kümmel hatte auch einen lebensgroßen ‚Ballspieler‘ in Gips gearbeitet, den Kestner sehr schätzte. Doch weil das Geld des Bildhauers knapp wurde, wollte er schon nach Hannover zurückkehren. Da sah Kestner seine Not und gab ihm das Geld, die Figur in Marmor auszuführen. An seine Schwester Charlotte schrieb Kestner: „Dies wird allmälig etwa 200 französische Louis kosten, aber was ist das Leben einer edlen Kreatur gegen solche 200 Stücke?“ [Ann Viola Siebert a.a.O. S. 222] (Es lässt sich kaum um- rechnen, wieviel Euro das heute wäre – nach Wiki müsste es aber durchaus eine höhere vierstellige Summe sein.) Im Jahre 1838 war der ‚Ballonschläger‘ in Marmor vollendet. Ein Kunsthistoriker würdigte die Arbeit mit den Worten: „Ohne Zweifel ist der Ballonschläger nicht nur eine der besten Arbeiten Kümmels, sondern der neuen Kunst überhaupt…“ [Helmut Eichhorn: Der Thorvaldsen-Schüler Heinrich Kümmel aus Hannover, Dissertation 1967 S. 36]

Zunächst sah es so aus, als kaufte niemand die Arbeit, aber dann kam der russische Kronprinz Alexander (der spätere Zar Alexander II) nach Rom und erwarb die Statue für den Winterpalast. Sie befindet sich heute in der Eremitage. Das war für den noch jungen Mann der Durchbruch. Er erhielt so viel Geld für die Skulptur, dass er sich neuen Marmor leisten konnte, außerdem war sein Lebensunterhalt für die nächste Zeit gesichert.

Kestner kümmerte sich auch weiter um ihn und 1845 verschaffte er ihm den Auftrag für eine Bronzestatue des Carl von Alten. Der hatte als General bei Waterloo gekämpft, und der König von Hannover beschloss, ihm dieses Denkmal zu stiften. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für Kestner war, zu erreichen, dass Kümmel diesen Auftrag erhielt – immerhin hatte er noch nie mit Bronze gearbeitet. Welche Vorarbeiten er dafür gemacht haben muss, kann man sich heute kaum vorstellen. Außerdem musste er dazu für eine Zeit nach Hannover zurückkehren. Bei diesem Aufenthalt hat er 1842 auch den ‚Hannoverschen Künstlerverein‘ mit gegründet.

Jetzt steht die Statue vor dem Hauptstaatsarchiv in Hannovers Calenberger Neustadt. Die meisten Hannoveraner haben dieses Denkmal sicher schon gesehen, wenn sie im Auto daran vorbeigefahren sind – aber wer wird es auch bewusst wahrgenommen haben…

Auch ich kannte den Künstler natürlich nicht, bis mir eines Tages im Landesmuseum Hannover diese Gruppe von Amor und Psyche auffiel. Dargestellt ist der Moment, wo Amor die durch einen

‚tödlichen Schlaf‘ hingestreckte Psyche wieder zum Leben erweckt. Amor steht hinter dem Mädchen, mit seinen Armen hat er sie schon ein wenig aufgerichtet, aber sie ist noch im Schlaf befangen. Dennoch scheint sie schon ein wenig Lebenskraft zu spüren – mit dem Kopf lehnt sie sich an den Geliebten. Auf der kreisförmigen Plinthe liegt das Gefäß, das Psyche geöffnet hat, weil sie darin die ‚ewige Schönheit‘ vermutete. Dahinter befinden sich Amors Köcher, aus dem noch die Pfeile ein wenig herausragen, und sein Bogen.

‚Amor und Psyche‘, das war im späten 18. und im 19. Jahrhundert häufig Thema der bildenden Kunst. Bei den Bildhauern sind es vor allem Canova und Thorvaldsen, die einzelne Momente aus der Erzählung plastisch dargestellt haben. Kümmels Werk ist aber auch im Vergleich mit den viel bekannteren Künstlern etwas Besonderes. Er hat durchaus Eigenes geschaffen, eine solche Darstellung des Mythos gibt es bei keinem anderen Künstler.

Wir sehen das langsame Erwachen Psyches. Wie sie ins Leben zurückkehrt, ist auf eine hoch sensible und zugleich treffende Art und Weise dargestellt.

Im Unterschied etwa zur klassizistischen Theorie und zu den Skulpturen von Thorvaldsen hat diese Gruppe mehrere ‚gute‘ Ansichten. So sieht man etwa von der rechten Seite die ‚Schmetterlingsflügel‘ von Psyche (im Unterschied zu den Adlerflügeln, mit den Amor ausgestattet ist).

Die Tatsache, dass Psyche immer mit Schmetterlingsflügeln dargestellt wird, hängt damit zusammen, dass ‚Psyche‘  im  Altgriechischen  sowohl  ‚Seele‘  als auch ‚Nachfalter‘ bedeutet. Und im Italienischen gibt es ein Sprichwort, das ein Weierleben nach dem Tod andeutet: ‚Per il bruco è la fine del mondo, gli altri la chiamano farfalla‘ – also: ‚Für die Raupe ist es das Ende der Welt, die anderen sagen Schmetterling dazu‘.

Was mich zunächst erstaunt hat, ist die Tatsache, dass die Flügel der Psyche noch verklebt zu sein scheinen und im Unterschied zu den Adlerflügeln herunterhängen. Aber nach längerem Nachdenken wurde mir klar, dass Kümmel das bewusst gemacht haben muss. Da die junge Frau noch fast ganz im Schlaf befangen ist, sind die Flügel auch noch zusammengeklebt. An solchen Details kann man sehen, wie differenziert und überlegt der Künstler gearbeitet hat.

Da Kümmel schon 1855 mit nur 55 Jahren starb, ist sein Oeuvre leider nicht sehr groß. Er hatte verfügt, dass sein künstlerischer Nachlass, seine Zeichnungen, die Bozetti und die Marmorskulpturen dem Provinzialmuseum zur Verfügung gestellt wurden.

Ebenso wie August Kestner ist auch Heinrich Kümmel auf dem ‚cimitero accatolico‘ in Rom begraben. Und wenn Sie das nächste Mal in Rom sind, sollten Sie diesen Friedhof ganz in der Nähe der Cestius Pyramide auf jeden Fall besuchen. Von den Deutschen sind dort u.a. auch Karl Philipp Fohr, Johann Christian Reinhart und August von Goethe begraben. Dazu sind dort die Grabstätten von John Keats und Percy Shelley – aber auch Italiener wie Antonio Gramsci und der vor zwei Jahren erst verstorbene Andrea Camilleri haben dort ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Ich wünsche Ihnen einen erfreulichen Sommer…. bis zum nächsten Brief Ihr

Rainer Grimm