Bettina Gust
Einsam und still
Im Jahr 1991 habe ich zwei Wochen im Centro Culturale Borgata San Martino Inferiore im Valle Maira im Piemont (Cottische Alpen) verbracht, dort an einem Italienischkurs teilgenommen und an mehreren Nachmittagen alte Einwohner des Dorfes befragt nach ihren Erinnerungen an das alte bäuerliche Leben in diesem Tal und auf den höher gelegenen Sommerweiden, den grange.
Die Menschen lebten in 1380 m Höhe von wenig Landwirtschaft: Gerste, Roggen, Buchweizen, Lupinen, Linsen, Flachs, Kohl und Kartoffeln wurden angebaut, Schafe und Ziegen weideten im Sommer auf den Grangen, 1000 m höher. Kaninchen und Hühner lebten bei den Häusern; Kühe gab es nur wenige.
Es war ein ärmliches, beschwerliches Leben in Abgeschiedenheit. War die Armut sehr groß, verkauften die Frauen ihre Haare; die Haarschneider exportierten sie dann bis nach London oder nach Frankreich. Heute sind die Dörfer im Valle Maira halb oder ganz verlassen; nur wenige junge Menschen kommen aus den Städten zurück in die verlassenen Häuser der Eltern oder Großeltern; sie eröffnen kleine Restaurants oder Gästehäuser oder leben wieder von der Schafzucht und der Käserei. Beim Wandern auf den Höhen des Tals, mit Blick auf den Monviso (3841 m) im Norden – dem Himmel so nah – begegnet man oft den ganzen Tag über keinem einzigen Menschen. Man lauscht den fließenden Bächen, den Vögeln, dem Rauschen des Windes, den eigenen Schritten, bewundert die blühenden Kräuter und Orchideen und genießt die große Ruhe und Stille in der Einsamkeit.