In diesem Rätsel wird nach einer Marmorskulptur gesucht. Ein überlebensgroßer, gewaltig aussehender, schon etwas älterer Mann sitzt in einer durch Pfeiler gebildeten Nische, wobei ‚Sitzen’ nur auf den ersten Blick zu stimmen scheint, tatsächlich drückt er sein linkes Bein so weit nach hinten, dass es aussieht, als wolle er gleich aufstehen. Er ist mit einem faltenreichen Gewand bekleidet, das die Arme und sein rechtes Knie freilässt.
Den Kopf wendet er nach links, ein mächtiger Bart fällt in Wellen bis in den Schoß hinab, dabei greift er mit den Händen in den Bart und zieht ihn mit der oberen rechten Hand nach rechts und mit der anderen wieder in die Mitte zurück. Sein Kopf ist ebenfalls dicht mit Locken bedeckt, über seiner Stirn ragen zwei konisch geformte Hörner aus dem Haar heraus. Der Blick ist ernst, die Augen sind tief verschattet, die Halsmuskeln treten hervor – man kann sagen, dass die ganze Haltung Anspannung ausdrückt. Mit dem rechten Ellenbogen drückt er zwei Tafeln an seinen Körper, wobei es so aussieht, als ob die Tafeln leicht herunterrutschen können.
Dies hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen – in einem ganz anderen Fach als der Kunstgeschichte – hochbedeutenden Wissenschaftler zu einer interessanten Interpretation veranlasst. Danach ist die Statue als Endpunkt einer gerade abgelaufenen Bewegungsfolge zu sehen. Der Mann sitzt am Hang des Berges, auf dem er gerade gewesen ist. Er sieht, wie die Menschen, die an sich auf ihn warten wollten, um ein goldenes Tier herum tanzen. Daraufhin will er die Tafeln zerschmettern, beherrscht sich aber mühsam. Die Statue zeigt danach den Kampf der seelischen Instanzen zwischen aggressivem Impuls und willentlicher Kontrolle.
Diese Interpretation bezieht der Autor dann auch auf den Künstler, der in seiner eigenen Person ebenfalls diese Widersprüche gehabt haben soll – was durch die erhaltenen Quellen auch belegt werden kann. In Briefen und zeitgenössischen Notizen wird immer wieder deutlich, dass der Künstler sehr jähzornig war und sich nur mühsam beherrschen konnte.
In Fall der gesuchten Figur waren sein Zorn und seine Frustration aber auch verständlich. Ursprünglich war geplant, sie mit mehreren anderen zu einem riesigen Grabmal zusammenzufügen – das, was wir heute am Aufstellungsort sehen können, ist nur ein kleiner Teil dessen, was Auftraggeber und Künstler in einem ersten Kontrakt vereinbart hatten. Insgesamt arbeitete der Künstler über vierzig Jahre an dem Projekt – immer wieder musste er zwischenzeitlich andere Arbeiten verrichten. Einige Figuren, die ursprünglich mit aufgestellt werden sollten, befinden sich daher heute an ganz anderen Orten.
Berücksichtigt man die ersten Zeichnungen, die den Ort zeigen, an dem die gesuchte Figur in dem Grabmal ihren Platz finden sollte, wird klar, dass die heutige Aufstellung für die an sich vorgesehene Ansicht nicht günstig ist. Da sie sehr hoch auf der linken Seite sitzen sollte, war sie vermutlich auf Untersicht hin berechnet – um die ‚richtige’ Ansicht zu haben, müsste man sie also auf dem Boden liegend betrachten. Nur – das ist bei dem heutigen Besucherandrang natürlich nicht möglich. Wer war der Künstler, wen hat er dargestellt…… und welcher berühmte Autor hat darüber geschrieben?
Rainer Grimm